Der ehemalige Landtag von Schaumburg-Lippe – ein Ort der Demokratiegeschichte
Vortrag von Heiko Holste anlässlich der Anbringung der Gedenktafel „Ort der Demokratiegeschichte“ am Landgericht Bückeburg am 29. April 2022
Bei der Grundstein-Legung dieses Gebäudes war nicht absehbar, dass es einmal als Ort der Demokratiegeschichte gewürdigt wird. Über den Bau dieses Hauses haben nämlich nicht gewählte Volksvertreter entschieden, sondern ein Fürst, der angeblich seine Macht „von Gottes Gnaden“ empfangen hatte. 1893 starb ein Fürst, ein neuer übernahm die Herrschaft und der ging als erstes daran, sein Schloss auszubauen. Das alte Regierungsgebäude, damals noch auf der Schlossinsel, war dabei im Wege. Es wurde abgerissen und so entstand 1895 dieses neue Ministerialgebäude als Sitz von Landesregierung und Landtag. Vorn am Eingang links war die Landeskasse, hier tagte das Plenum und dort hinten war das Ausschusszimmer.
Aber ein Ort der Demokratie war das noch nicht, denn der Landtag des Fürstentums wurde nicht demokratisch gewählt. Einen Teil der Abgeordneten ernannte der jeweilige Fürst selbst, ein anderer Teil wurden von privilegierten Bevölkerungsgruppen, den Ständen, bestimmt: von den adligen Gutsbesitzern, den Pastoren und den Akademikern und Lehrern. Nur der Rest wurde in Wahlen bestimmt, aber die waren weder geheim noch gleich. Obwohl etwa die Sozialdemokratie auch im Fürstentum die stimmenstärkste Partei wurde, schaffte es unter diesem Wahlverfahren nur ein einziger Kandidat in den Landtag: der Stadthäger Heinrich Lorenz. Er beantragte mehrfach, das allgemeine und gleiche Wahlrecht einzuführen, aber damit stand Lorenz allein auf weiter Flur. Noch 1917 wurde sein Vorstoß mit allen – nur gegen seine eigene Stimme – abgelehnt.
Zum Landtag des Freistaats Schaumburg-Lippe auf der Deutschlandkarte
Es bedurfte erst der Revolution und des Sturzes der Monarchie im November 1918, damit dieser Landtag tatsächlich ein Ort der Demokratie wurde. Im Februar 1919 konnten zum ersten Mal alle Schaumburg-Lipper über 20 Jahren ihre Volksvertreter wählen – und zwar Männer und Frauen. 15 Abgeordnete bildeten den Landtag und mit Marie Kreft, der Gründerin der Arbeiterwohlfahrt aus Stadthagen, war vom ersten Tag an eine Frau dabei. Sie sollte übrigens die einzige weibliche Landtagsabgeordnete bleiben.
Vier Jahre lang hatten Kaiser, Fürsten und Generäle Krieg geführt. Ein geschlagenes Land, weltweit geächtet, Millionen Tote und zerrüttete Staatsfinanzen – das waren die Folgen und die Hypothek, mit der Deutschland zur Republik wurde und das Fürstentum zum Freistaat.
Nun hatte die Demokratie der Weimarer Republik, die bis 1933 bestand, manche Probleme:
- im Reichstag in Berlin hatten die demokratischen Parteien schon seit 1920 keine Mehrheit mehr,
- rechte und linke Extremisten arbeiten daran, die Demokratie zu zerstören,
- jeder gewählte Reichstag wurde vorzeitig aufgelöst,
- aber die Neuwahlen führten nicht zu stabilen Verhältnissen, im Gegenteil: ständige Regierungskrisen prägen das Reich, in den 14 Jahren der Weimarer Republik gab es 13 verschiedene Reichskanzler.
Soweit die Lage im Reich, in Berlin. Hier in Schaumburg-Lippe dagegen sah die Sache anders aus:
- Alle Landtage haben ihre dreijährige Wahlperiode erfüllt, eine vorzeitige Auflösung gab es nicht.
- Bei drei Landtagswahlen gaben die Wähler der SPD eine absolute Mehrheit; bei den beiden anderen Wahlen bekamen SPD und die liberale Deutsche Demokratische Partei zusammen eine Mehrheit.
- Extremisten wie KPD und NDSAP zogen erst bei der letzten Landtagswahl 1931 in das Parlament ein.
- Und in der Regierung gab es große Stabilität. 12 der 14 Jahre dominierte die SPD die Landesregierung, solange gehörte ihr auch Heinrich Lorenz an. Ab 1927 als Regierungschef, der hier nicht Ministerpräsident, sondern Staatsrat hieß.
Die Weimarer Republik bestand aus 17 Ländern, aber was bis heute nahezu unbekannt ist: Schaumburg-Lippe war das einzige Land, in dem die Wähler bis 1933 mehrheitlich die verfassungstreuen Parteien, nämlich Sozial- und Liberaldemokraten, wählten. Falls jemand das christdemokratische Zentrum vermisst, das ja im Reichstag eine große Rolle spielte: das war eine katholische Partei und mangels Katholiken in Schaumburg-Lippe trat die hier zu Wahlen gar nicht an.
Wie wurde die demokratische Mehrheit hier im Landtag genutzt?
Nun, zuerst agierten gerade die Sozialdemokraten sehr zurückhaltend. Wie im Reich auch, glaubten sie oft, angewiesen zu sein auf die alten Fachleute. Trotz absoluter Mehrheit wurde das Amt des Landtagspräsidenten zunächst einem Bürgerlichen überlassen. Auch den Vorsitz in der Landesregierung behielt vorerst ein Beamter, der noch aus der Monarchie stammte.
Aber zunehmend gewann man an Selbstbewusstsein: Anfang 1922 wählte der Landtag einen sozialdemokratischen Juristen zum Staatsrat. Der sagte dem alten Untertanengeist den Kampf an und erklärte „ein menschenwürdiges Dasein für alle“ zu seinem Ziel. Im gleichen Jahr wurde auch ein Sozialdemokrat Landtagspräsident, nämlich Erwin Loitsch, der Landrat des Kreises Bückeburg. Mit kurzer Unterbrechung blieb er bis 1933 der Parlamentspräsident. Auch in der Landesverwaltung sucht man nun gezielt nach neuen, republikanisch eingestellten Kräften.
Die Aufgaben waren groß: Heimkehrende Soldaten mussten wieder in den Alltag integriert, die Kriegs- auf die Friedenswirtschaft umgestellt werden. Man förderte das Siedlungswesen und den Neubau der Volksschulen auf den Dörfern. Und das soziale Engagement des Staates wurde ausgeweitet, auch wenn die wachsende Arbeitslosigkeit den finanziellen Spielraum der Politik sehr bald begrenzte.
Die Gesetze, die der Landtag hier beschloss, wurden meist von anderen Ländern abgeschrieben. Man hatte hier im Haus gar nicht die Ressourcen, um für alle Lebensbereiche eigene Vorschriften zu entwerfen. Die Frage war aber, bei wem man abschrieb? Und da nahm man sich immer wieder strikt demokratische Länder zum Vorbild, das zeigte sich zum Beispiel beim Republikschutz, wo Schaumburg-Lippe immer sehr entschlossen gegen Rechtsextremisten vorging.
Aber in diesem Saal wurde auch Eigenes geschaffen, z.B. etwas, das für uns heute ganz selbstverständlich ist; übermorgen ist es wieder so weit: Der 1. Mai war ab 1922 in Schaumburg-Lippe gesetzlicher Feiertag. Die Konservativen liefen Sturm dagegen, aber der Feiertag blieb bestehen bis 1933. Auch das gab es so in keinem anderen deutschen Land.
War Schaumburg-Lippe nun eine demokratische Insel der Seligen? Ein Bollwerk der Republik im Miniaturformat? Hören wir mal einen Zeitgenossen. Im November 1924 kommt Harry Graf Kessler nach Bückeburg. Er ist zwar von Adel, aber ein liberaler Weltbürger; ein Kosmopolit, der sich für die Weimarer Republik engagiert und der gerade für die Deutsche Demokratische Partei zum Reichstag kandidiert. Was er in sein Tagebuch notiert, hat es in sich:
„Nachmittags nach Bückeburg zurück … sobald man aus dem Bahnhof heraustritt: giftige Fäulnis-Bazillen einer toten Vergangenheit. Die ,Kleine Residenz’ in ihrer korrumpiertesten Form. Ein übermäßig reiches Fürstengeschlecht und sonst nur dienende Kleinbürger, vom pensionierten General bis zum Hofgärtner und Leibzahnarzt herunter.“
Wie passt das nun zusammen? Die demokratischen Mehrheiten im Landtag und dieses scharfe Verdikt Kesslers? Tatsache ist: Die Demokratie hatte es auch in Schaumburg-Lippe und hier im Landtag alles andere als leicht:
- Als Ende 1918 die Ständeherrschaft abgeschafft und das allgemeine Wahlrecht eingeführt wird, gibt es einen lautstarken Opponenten: Hermann Heidkämper, den Vorsitzenden des Schaumburg-Lippischen Pastorenbundes.
- Bei Einführung des Frauenwahlrechts verkündete jemand: Die Schaumburg-Lipperinnen wollten eigentlich gar nicht wählen und die beste Frauenbewegung sei doch noch immer ein schöner Walzer. So Wilhelm Wiegmann, Vorsitzender des schaumburg-lippischen Lehrervereins.
- Und als bei den Gemeindewahlen das Klassenwahlrecht abgeschafft wird, protestiert der Landgerichtsdirektor Heinrich Zwitzers: Es sei doch nur gerecht, dass derjenige, der mehr Steuern zahle, auch mehr zu bestimmen habe.
Pastoren, Lehrer, Juristen – die alten Eliten und einstigen Stützen der Fürstenherrschaft sind auch in Schaumburg-Lippe die stärksten Feinde der jungen Demokratie.
Der Weltkrieg ist gut sechs Wochen beendet, da verkündet Pastor Heidkämper: schuld an der Niederlage seien – nein, nicht etwa der Kaiser oder das Militär, sondern: Sozialdemokraten, die Revolution und – die Juden. Pastoren der Landeskirche betreiben eine so massive Hetze gegen Juden, dass in der Schaumburg-Lippischen Landeszeitung ein Leserbriefschreiber mahnt, die Geistlichkeit solle doch besser Liebe und Eintracht lehren statt Hass und Zwietracht.
Hans Weiß ist der Bückeburger Staatsanwalt, ein parteiloser Republikaner und – der Großvater von Frau Landgerichtspräsidentin Höcker. Hans Weiß will im Juni 1924 hier in Bückeburg eine Ortsgruppe des Republikanischen Reichsbundes gründen, das ist eine Vereinigung, die sich parteiübergreifend für die Republik einsetzt. Die Versammlung wird von Männern des rechtsradikalen Stahlhelm-Bundes immer wieder gestört, am Ende wird ein Teilnehmer auf dem Heimweg zusammengeschlagen und schwer verletzt.
Hier zeigt sich: Demokratiefeindschaft und Gewalt von rechts, die Dolchstoßlüge, Antisemitismus und völkisches Denken – das gab es in Schaumburg-Lippe schon lange vor den Nazis; für sie hatten Konservative das Feld schon bestens bestellt – und zwar vor allem hier in Bückeburg.
Schaumburg-Lippe war nämlich ein politisch gespaltenes Land: In der alten Residenzstadt Bückeburg und den Bauerndörfern im Norden des Landes, etwa in meiner Heimat Großenheidorn, dominierten die Republikfeinde. In der anderen, der größeren Stadt des Landes dagegen, in Stadthagen, in Steinhude und den Bergarbeiterdörfern um Bückeburg herum, waren dagegen die demokratischen Kräfte stark – und sie stellten die Mehrheit.
Obwohl Bückeburg keineswegs repräsentativ war, bestimmte es trotzdem das Bild des Landes. Dies lag auch daran, dass hier die einzige Tageszeitung im Land erschien und diese veröffentliche Meinung war in der Hand der Republikfeinde: die Schaumburg-Lippische Landeszeitung gehörte bis zu ihrer Fusion mit dem örtlichen NS-Blatt der ehemaligen Fürstenfamilie. Wenn also die Landeszeitung davon schrieb, wie sehr die Bevölkerung doch die Abdankung des letzten Fürsten bedauere, dann muss man solche Aussagen im Lichte der Eigentümerstruktur dieses Blattes sehen.
Hier im Landtag macht der Hass der Republikfeinde den Demokraten immer wieder die Arbeit schwer. Der Landesschulrat etwa, ein engagierter Demokrat und weltgewandter Romanist, wurde monatelang mit einer Verleumdungskampagne überzogen: Er habe in Essen auf der Straße Werbung für die französische Fremdenlegion gemacht. Die Sache entpuppte sich als absurde Lüge, aber sie zeigt Niveau und Mittel der politischen Angriffe von rechts.
Zur Verrohung der Streitkultur trugen auch die Gegner eines möglichen Anschlusses des Landes an Preußen bei: Der Anschluss war ja das dominierende Thema der Landespolitik in den 20er Jahren. Die Befürworter wurden als verkappte Landesverräter beschimpft; sie verkauften das Land an Preußen, behaupteten die sogenannten Heimattreuen. Das war ein früher Missbrauch des Heimatbegriffs für antidemokratische Parteizwecke, denn die führenden Köpfe der sogenannten Heimattreuen waren gar keine gebürtigen Schaumburg- Lipper. Sie waren aber allesamt Parteigänger der radikalen Rechten, die einen Anschluss an das demokratisch regierte Preußen und damit einen Verlust ihres Einflusses hinter den Kulissen fürchteten.
Trotzdem kam es hier im Landtag immer wieder zu Formen der Zusammenarbeit, die sich nur aus der Kleinheit der Verhältnisse erklären lässt. Das persönliche Näheverhältnis der Akteure zueinander ermöglichte Kooperationen, die es in einem größeren Land, wo die Anonymität eher die Ideologie dominieren ließ, sicher nicht gegeben hätte. Heinrich Lorenz genoss Respekt in allen Lagern und seine Sozialdemokraten nahmen etwa trotz absoluter Mehrheit zwei Konservative in die Landesregierung auf – allerdings beides Männer, die nicht aus den reaktionären Kreisen Bückeburgs stammten, sondern die Lorenz aus Stadthagen persönlich kannte.
Dabei muss man auch wissen: die Landesregierung war eher das, was heute der Verwaltungsausschuss der Stadt oder der Kreisausschuss ist; man tagte einmal die Woche, Freitagsnachmittags hier im 1 Stock; der Staatsrat war der Hauptverwaltungsbeamte und die anderen Regierungsmitglieder waren ehrenamtlich tätig.
Die allgemeine Radikalisierung war aber auch hier im Landtag bald zu spüren. Nach den Wahlen 1931 betrieben Kommunisten, Nationalsozialisten und die Reste der bürgerlichen Rechtsparteien gemeinsam eine Fundamentalopposition gegen die inzwischen sozial- liberale Landesregierung. Weil der Landtag nach der Verfassung nur beschlussfähig war, wenn zwei Drittel der Abgeordneten anwesend waren, legten sie den Landtag durch ihren Auszug aus diesem Saal regelmäßig lahm. Die Landesregierung musste mit Notverordnungen zu regieren, obwohl es im Landtag eigentlich eine demokratische Mehrheit gab.
Wenn man in die Landtagsprotokolle in der Endphase der Republik blickt, ist man beeindruckt, wie hellsichtig, mancher damals schon das kommende Unheil voraussah: Franz Reuther etwa, nach dem Zweiten Weltkrieg Landrat von Schaumburg-Lippe, fragte 1932 die Nationalsozialisten im Landtag:
„Zu welchem Zweck bewaffnen Sie Leute, etwa zum Zwecke der geistigen Auseinandersetzung? Mit Revolvern und Maschinengewehren werden keine geistigen Probleme gelöst. Die nationalsozialistische Bewegung ist eine Bewegung der Macht unter Ausschaltung der Anteilnahme des Volkes. Das Ziel ist eine ausgesprochene Diktatur. […] Bei uns gilt nicht die Rasse, sondern der Mensch. Der Mensch, der in einer schwarzen Haut steckt, ist mir lieber, wie der Schuft, der in einer weißen Haut steckt. […] Die Nationalsozialisten sind die Partei der Revanche, sind die Partei des Krieges.“
Diktatur, Rassismus, kriegerischer Nationalismus – wer es sehen wollte, konnte es offenkundig schon früh sehen. Die Reaktion der NSDAP-Abgeordneten auf diese Worte bestätigte übrigens den Redner. Im Landtagsprotokoll hieß es:
„Der [NS-]Abgeordnete Dreier droht, dem Abgeordneten Reuther einen Aschenbecher an den Kopf zu werfen …“.
Mit solchen Eklats versuchten die Nationalsozialisten die Funktionsfähigkeit und das Ansehen des Landtages planvoll zu zerstören. Sie wollten genau jenes Chaos herbeiführen, für dessen Beseitigung sie sich dann den Wählern mit ihrem autoritären Programm empfahlen.
Bemerkenswert war auch der einzige KPD-Abgeordnete, der immer wieder Misstrauensanträge gegen die „faschistische Regierung Lorenz-Reuther“ einbrachte. Wohlgemerkt: Heinrich Lorenz und Franz Reuther waren Sozialdemokraten, aber nach Stalins Doktrin waren sie die Hauptgegner der Kommunisten und wurden als „Sozialfaschisten“ beschimpft. Man sieht: Wenn der heutige Machthaber im Kreml seine demokratischen Gegner als Faschisten deklariert, dann hat das in Moskau eine lange böse Tradition.
Aber noch war Schaumburg-Lippe eine Bastion der Republik. Als etwa 1932 der reaktionäre Reichskanzler von Papen die demokratische Landesregierung Preußens absetzte, protestiert Heinrich Lorenz sofort gegen diesen Staatsstreich. Auch im Reichsrat sprang Schaumburg- Lippe der abgesetzten Preußen-Regierung bei – und zwar als einziges Land aus dem niedersächsischen Raum, denn in Oldenburg und Braunschweig saßen bereits die Nationalsozialisten in den Regierungen.
Als Reichspräsident Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, wähnte sich die NSDAP auch in Schaumburg-Lippe schon an der Macht. Aber Heinrich Lorenz und sein liberaler Koalitionspartner Rudolf Bretthauer lehnten es ab, das Feld zu räumen. Im Gegenteil: Lorenz gab der Polizei den Befehl, gegen Amtsanmaßungen der SA streng vorzugehen und er rief zu Massendemonstrationen auf. Unter dem Motto „Republikaner Heraus! Zeigt Bekennermut“ demonstrieren noch Mitte Februar 1933 Tausende in Stadthagen und Bückeburg für die Demokratie.
Bei der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 gewannen dann die NSDAP und ihr deutsch-nationaler Koalitionspartner auch in Schaumburg-Lippe eine knappe Mehrheit von 51%. Aber Lorenz und seine Landesregierung kapitulierten nicht. Sie traten zwar zurück, aber sie blieben geschäftsführend im Amt und schrieben Neuwahlen zum Landtag aus; sie hatten die berechtigte Hoffnung, dass die Wähler bei einer Landtagswahl weiter mehrheitlich demokratisch wählen würden.
Die örtlichen Nazis dagegen glaubten sich am Abend des Rücktritts schon an der Macht. Die SA marschierte durch Bückeburg, drang mit Gewalt in dieses Gebäude ein und hisste die Hakenkreuzfahne hier oben auf dem Dach. Die Landesregierung ließ die Fahne sofort wieder einholen. Sie protestierte bei Hitler und Hindenburg und forderte telegrafisch die Wiederherstellung von Recht und Ordnung. Die Hitler-Regierung reagierte auch, aber anders als erhofft: Sie setzte einen Reichskommissar ein, der am 9. März 1933 in Bückeburg auftauchte. Unter dem Protest von Heinrich Lorenz und Rudolf Bretthauer entließ er alle Regierungsmitglieder und übernahm die Amtsgeschäfte selbst.
Man mag die Proteste von Lorenz und Co. für hilflos und naiv halten, aber man muss sich das konkret vorstellen: Schon seit sechs Wochen war Hitler Reichskanzler. Außerhalb von Schaumburg-Lippe herrschten die Schlägertrupps der SA. Viele Politiker waren bereits in erste KZs verschleppt worden und der preußische Ministerpräsident schon ins Schweizer Exil geflohen. Aber in diesem Moment, als Macht und Gewalt der Nationalsozialisten triumphierten, pochte man hier in Schaumburg-Lippe auf Recht und Gesetz. Heinrich Lorenz und Rudolf Bretthauer hielten der Weimarer Demokratie und ihrer Verfassung selbstbewusst die Treue. Sie waren damit übrigens die letzte demokratische Landesregierung, die von Hitler abgesetzt wurde. Auch das ist bemerkenswert.
Die Stärke der Demokraten in Schaumburg-Lippe verzögerte dann auch noch die formale Errichtung der Diktatur. Der Reichskommissar berief einen gleichgeschalteten Landtag ein, der nicht gewählt wurde, sondern entsprechend dem Ergebnis der Reichstagswahl besetzt war. Dort hatten die Sozialdemokraten noch immer mehr als ein Drittel der Sitze. Die Nazis und ihrem deutsch-nationalen Koalitionspartner fehlten daher eine Stimme für ein sog. Ermächtigungsgesetz. An der ersten Landtagssitzung nahmen die SPD-Abgeordneten noch teil, aber dann wurden sie von den neuen Machthabern mit Verhaftungen und Hausdurchsuchungen so lange terrorisiert, bis sie ihre Mandate niederlegten. Unter Bruch von Recht und Gesetz wurde als Nachrücker ein NSDAP-Mann festgelegt und mit dessen Stimme beschloss der Landtag dann am 14. Juli 1933 das Ermächtigungsgesetz.
Hier zeigt sich erneut: Aus eigener Kraft haben es die Nationalsozialisten und ihre konservativen Steigbügelhalter in Schaumburg-Lippe nie geschafft, an die Macht zu kommen. Das unterscheidet dieses Land von nahezu allen anderen in Deutschland.
Am 14. Juli 1933 fand zugleich die letzte Sitzung eines Schaumburg-Lippischen Landtages überhaupt statt. Nach Diktatur, Krieg und Völkermord wurde nämlich in Schaumburg-Lippe, anders als in Oldenburg und Braunschweig, kein Landesparlament mehr gebildet.
Und wie ist es den Landtagsabgeordneten ergangen?
- Den Kommunisten Karl Meier verschleppten die Nazis in vier verschiedene Konzentrationslager.
- Staatsrat Heinrich Lorenz überlebte die Diktatur zurückgezogen im Harz.
- Franz Reuther hielten die Nazis solange in Haft, bis sie ihm die schriftliche Zusicherung abgepresst hatte, Schaumburg-Lippe zu verlassen; er zog nach Bielefeld.
- Der liberale Abgeordnete Rudolf Bretthauer verlor seine Stellung als Studiendirektor in Stadthagen.
- Marie Kreft wurde mehrfach verhaftet und ins Gefängnis geworfen.
- Den Steinhuder Heinrich Ohlhorst peinigte man mit Hausdurchsuchungen solange, bis er auch sein Mandat als Gemeinderat niederlegte.
- Und Erwin Loitsch überzogen die Nazis mit den üblichen Korruptionsvorwürfen, um ihn um Ehre und Ansehen zu bringen.
Meine Damen und Herren, als Heinrich Lorenz vom Hitlers Kommissar abgesetzt wurde, erklärte dieser süffisant, er sei nicht ermächtigt, ihm Dank auszusprechen. Was dann hier oben im Regierungszimmer geschah, hat der Protokollführer der Landesregierung genau aufgeschrieben:
„Lorenz erhob sich als erster und ging zur Tür. Auf halben Wege machte er kehrt, sah den Kommissar scharf an und erklärte: ,Herr Kommissar, ich will Ihnen mal was sagen: Wer glaubt, in der Politik Dank zu ernten, ist ein großer Ochse! Auf Wiedersehen!’“
Meine Damen und Herren, für Dank ist es heute etwas spät, aber ich meine, unsere Erinnerung verdienen Schaumburg- Lippes Demokraten schon. In einer Zeit, in der Freiheit und Demokratie von innen und außen wieder unter Druck geraten, sollten wir uns der Geschichte unsere Demokratie stärker annehmen als bisher, ihren Orten und ihren Protagonisten.
- Was wissen wir eigentlich über die ersten Frauen, die 1919 in Bückeburg und Stadthagen in die Stadtparlamente gewählt wurden, und die mit der Gleichberechtigung angefangen haben? In Stadthagen wurde jetzt eine Straße nach Marie Kreft benannt – ein wunderbarer erster Schritt.
- Es ist großartig, dass das Museum Bückeburg gerade einen kräftigen öffentlichen Zuschuss vom Land bekommen hat. Wäre es nicht schön, wenn dort neben der Geschichte des Fürstentums auch die Demokratiegeschichte des Freistaates Schaumburg-Lippe präsentiert würde?
- Das Bückeburger Schloss kennt jeder, aber wer weiß schon, dass in diesem Haus einmal die Volksvertretung von Schaumburg-Lippe gewesen ist?
- Und wie pflegen wir das Andenken an jene, die unter großen Opfern schon früh für Freiheit und Demokratie, Rechtsstaat und soziale Gerechtigkeit eingetreten sind? Fürsten und Prinzen wird mit großen Mausoleen gedacht, aber das Grab von Heinrich Lorenz wurde erst vor kurzem in Stadthagen abgeräumt.
Der Blick zurück zeigt uns, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist – und das macht die Geschichte für unsere Zukunft so wichtig. Durch die Pflege der Demokratiegeschichte stärken wir auch unsere Demokratie heute. Und dazu können wir alle etwas beitragen: Landkreis und Kommunen, Heimatverein, Museum und Schaumburger Landschaft. Und, verehrte Frau Landtagspräsidentin, auch das Land kann manches tun. Ein kleines, praktisches Beispiel: Die Protokolle des Schaumburg-Lippischen Landtages liegen hier bisher nur als Stenogramme oder abgetippt vor. Für den Oldenburger Landtag sind diese Dokumente längst digitalisiert und stehen im Internet. Damit das auch für Schaumburg-Lippe geschehen kann, braucht das Landesarchiv um Herrn Dr. Brüdermann mehr Geld und Manpower. Wäre es nicht eine schöne Sache, wenn gerade Sie, als Landtagspräsidentin, sich dafür einsetzen würden? Das wäre ein kräftiger Impuls für Forschung und Heimatkunde, und es würde unseren Blick auf den Landtag und seine Volkvertreter weiter schärfen.
Und diesen Blick sollten wir schärfen. Das Bild von Schaumburg-Lippe als Duodez- Fürstentum mit seiner angeblich so fürstentreuen Bevölkerung ist eine Legende, die korrekturbedürftig ist. Schaumburg-Lippe war auch ein demokratischer Freistaat. Ein kleines Land zwar, aber mit einer starken Demokratie, die einzigartig in der Weimarer Republik war. Es lohnt sich, diese Vergangenheit zu entdecken und die Erinnerung daran stärker zu pflegen. Als Demokratinnen und Demokraten können wir Schaumburg-Lipper auf diesen Teil unserer Landesgeschichte ganz besonders stolz sein!
Bildquellen
- Gedenktafel zur Baugeschichte des Gebäudes, Landgericht Bückeburg: GEDG, M. Lang
- Der Plenarsaal des Schaumburg-Lippeschen Landtags, heute Sitzungssaal des Landgerichts Bückeburg: GEDG, M. Lang
- Dr. Heiko Holste, Eike Höcker und Dr. Gabriele Andretta bei der Enthüllung der Gedenktafel: GEDG, M. Lang
- Landgericht Bückeburg, ehemals Sitz des Landtags von Schaumburg-Lippe: GEDG, M. Lang