Sunderbrink über den Landtag von Lippe

„Unsere Demokratie hat starke Wurzeln in der Zeit der Weimarer Republik. Dieser Landtag ist also ein Ort, an dem an das Ringen um die besten politischen Lösungen in der ersten deutschen Demokratie erinnert werden kann; an Debattenkultur und erstmals auch die Teilhabe von Frauen daran. Hier kann beobachtet werden, wie die demokratischen Kräfte versuchten, eine Identifikation mit der Republik zu verfestigen.“

Festansprache von Dr. Bärbel Sunderbrink anlässlich der Anbringung der Gedenktafel „Ort der Demokratiegeschichte“ am ehemaligen lippischen Landtag am 15.1.2023

Als das Landtagsgebäude 1914 im Beisein von Fürst Leopold und Fürstin Bertha eingeweiht wurde, war die monarchische Staatsform bereits ins Wanken geraten. Ein Fürst, der seinen Herrschaftsanspruch „von Gottes Gnaden“ ableitete, und ein nach dem Dreiklassenwahlrecht zusammengesetztes Landesparlament passten nicht mehr in eine Zeit, die von Industrialisierung und Massenkultur geprägt war. Doch die starken Beharrungskräfte der alten Eliten und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ließen alle Reformforderungen verstummen.

v.l.n.r.: Gudrun Schäpers, Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamm; Landrat Axel Lehmann; André Kuper, Präsident des Landtags von Nordrhein-Westfalen; Gisela Nagel, Präsidentin des Landgerichts Detmold; Markus Lang, Projektleiter GEDG; Hans-Bodo Goldbeck, Vizepräsident des Landgerichts a.D.; Bärbel Sunderbrink, Leiterin Stadtarchiv Detmold

Erst als mit der sich zuspitzenden Kriegslage Kaiser Wilhelm um seine Legitimität bangte und mit seiner „Osterbotschaft“ von 1917 Veränderungen im Wahlrecht ankündigte, wurde auch in Lippe der politische Druck wieder größer. Im Oktober 1918 schließlich stellte Fürst Leopold in einem Aufruf „An mein Volk“ ein allgemeines, wenn auch nicht gleiches Männerwahlrecht in Aussicht.

Zu spät. Die Monarchie hatte ihre Legitimation da bereits verloren: In Berlin wurde am 9. November 1918 die Republik ausgerufen, und als die Revolution Detmold erreichte, verzichtete auch das lippische Fürstenhaus auf seinen Herrschaftsanspruch. Der Volks- und Soldatenrat, also die revolutionäre Übergangsregierung, löste den ständischen Landtag wenig später auf.

Anfang 1919 dann der große Tag der Demokratie, die erste Wahl für den neuen Landtag am Sonntag, 26. Januar. Erstmals waren alle – Frauen und Männer über 20 Jahren – zur Stimmabgabe aufgerufen. Die lippischen Volksvertreter wurden nun nach allgemeinem, gleichem, geheimem und unmittelbarem Wahlrecht gewählt. Eine lippische Besonderheit: Es gab zunächst eine Wahlpflicht.

21 Abgeordnete bildeten die neue Volksvertretung. Die Revolutionsparteien SPD und die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) erlangten mit zusammen 15 Sitzen eine deutliche Mehrheit im Parlament, und mit der Wäschenäherin Auguste Bracht aus Oerlinghausen war vom ersten Tag an eine Frau dabei.

Dabei hatte es in diesem Punkt Diskussionen um das Wahlrecht gegeben: Bis in das liberale Lager hinein wurde in Lippe die Forderung nach einer Karenzzeit laut. Da man sich um die politische Mündigkeit der Frauen sorgte, sollte das passive Wahlrecht für die kommenden zwei Wahlperioden ausgesetzt werden. Nach zehn Jahren – so das Argument – hätten sich die Frauen eingearbeitet und könnten sich als Kandidatinnen aufstellen lassen. Das Reichsrecht schob solchen Überlegungen einen Riegel vor; die Wahllisten der Parteien sorgten aber weiterhin dafür, dass Frauen kaum Chancen auf ein Mandat hatten. Nur insgesamt fünf Frauen gehörten den Lippischen Landtagen an.

Eine der ersten Entscheidungen des Landtags betraf die Landesverfassung, mit der die parlamentarische Republik als Staatsform festgeschrieben wurde.

Der Landtag wählte als oberstes Staatsorgan ein Kollegium aus drei Personen, das Landespräsidium. Dieses Gremium stellte unter den Verfassungen aller Länder ein Unikum dar. Es band unterschiedliche politische Kräfte zusammen und wirkte damit über die gesamte Weimarer Zeit als stabilisierender Faktor. Eine Schlüsselrolle innerhalb des Landespräsidiums hatte der als Pragmatiker bekannte Sozialdemokrat Heinrich Drake inne.

Die Probleme, die in diesem Plenarsaal zu verhandeln waren, waren komplex. Soziale Reformmaßnahmen hatten angesichts der strukturellen Probleme großes Gewicht in der Landespolitik. Der Arbeitsmarkt für die lippischen Wanderziegler war nach dem Ersten Weltkrieg zusammengebrochen, außerhalb der Holzwirtschaft gab es kaum Industrie. Für die zurückgekehrten Soldaten wurden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf den Weg gebracht. Flächen des ehemaligen Domaniums wurden mit staatlicher Hilfe kultiviert, und in beträchtlichem Rahmen Wohnungsbaumaßnahmen angestoßen. Ein weiteres wichtiges Handlungsfeld war der Ausbau des Schulwesens. 1919 wurde hier im Saal das erste Fortbildungs-Schulgesetz Deutschlands verabschiedet, denn Bildung stellte für die junge Demokratie einen besonderen Wert dar.

Die permanente Finanzknappheit des Landes hatte auf das wichtigste Recht des Landtags, das Budgetrecht, großen Einfluss. Über die gesamte Weimarer Zeit hinweg stand die Frage im Raum, ob Lippe als selbständiger Staat überhaupt überlebensfähig war. Überlegungen zu einer umfassenden Reichsreform hatte es schon seit 1919 gegeben. Zwei Lösungen wurden vor allem diskutiert: die Angliederung des Freistaats an Preußen und die Bildung eines neuen Mittelstaates im Weserraum. Da die Reichsreformdebatte aber nicht vorankam, konnte der lippische Kleinstaat trotz aller Sparpolitik seinen Landeshaushalt nur durch Ergänzungszahlungen vom Reich sichern.

Doch nicht nur Sachpolitik, auch die Symbolkultur sollte dazu beitragen, die Weimarer Demokratie in der Bevölkerung zu verankern. In diesem Plenarsaal fanden anfangs die zentralen Landesfeiern zum Verfassungstag am 11. August statt. Ein Feiertag für die Republik, der an die Unterzeichnung der Weimarer Verfassung im Jahr 1919 erinnern sollte!

Die Landtagsabgeordneten nahmen daran teil, ebenso Abordnungen von Parteien und Verbänden. Das Detmolder Reichswehrbataillon stellte eine Ehrenkompanie, die Militärkapelle spielte auf. Nur in Berlin wurde der höchste Feiertag der Republik mit ähnlichem Aufwand begangen.

Erst in den allerletzten Jahren der Weimarer Republik erodierte der Rückhalt für die lippische Demokratie. Hatte die SPD bei den Landtagswahlen stets die meisten Wähler erreicht und seit 1921 je 8 bzw. 9 der 21 Landtagsmandate besetzt, nahm die Zustimmung zu der republiktreuen DDP immer weiter ab. Seit der Wahl von 1929 erstarkten die republikfeindlichen Kräfte erschreckend schnell, und seit 1931 stellte die NSDAP durch einen Überläufer aus der Landvolkpartei erstmals einen Landtagsabgeordneten. Die rechtsnationale DNVP und rechte Splitterparteien ließen nun keine Gelegenheit mehr aus, die Parlamentsarbeit zu sabotieren und durch Volksbegehren die Legitimation der Volksvertretung zu untergraben. Doch während in Berlin jeder der gewählten Reichstage vorzeitig aufgelöst wurde, war das bei den vier lippischen Landtagen zwischen 1919 und 1933 nie der Fall.

Als dann an der Wende zum Jahr 1933 das Land Lippe ins Visier der NSDAP geriet, die ihre Verluste auf Reichsebene kompensieren wollte, schaute unerwartet ganz Deutschland auf den Kleinstaat. Der Landtagswahlkampf vor nunmehr 90 Jahren sucht seines Gleichen: Die NS-Prominenz zog über die lippischen Dörfer, Hitler selbst trat als Redner bei 16 der unzähligen Wahlveranstaltungen auf.

Der Wahlsieg der NSDAP war zu erwarten. Sie errang 39,5 % der Stimmen. Zwar war das Ergebnis von der absoluten Mehrheit weit entfernt, machte die NSDAP aber mit 9 Abgeordneten gleich zur stärksten Fraktion. Doch hätte es keine Unterstützung durch die bürgerlichen Parteien gegeben, hätte die NSDAP keine Mehrheit für ihr Landespräsidium zusammenbringen können.

Propagandistisch wurde die Lippewahl vom 15. Januar 1933 als „Durchbruchschlacht zur nationalen Revolution“ aufgeladen. Das Votum der Wählerinnen und Wähler in Lippe wurde als Beweis für das Wiedererstarken der Partei gedeutet und die Kanzlerschaft Hitlers nun vehement eingefordert – mit Erfolg. Reichspräsident Hindenburg ernannte zwei Wochen nach der Lippe-Wahl Adolf Hitler zum Reichskanzler.

Dass es gerade die Landtagswahl in Lippe war, in der die NSDAP ihre ungebrochene Schlagkraft unter Beweis stellen wollte, war ein historischer Zufall. Später wurde daraus ein Mythos; doch es gab kein „Hermannsland“, das befreit werden musste, wie die Wahlplakate der NSDAP es forderten. Die Lipperinnen und Lipper haben Hitler nicht – wie es der Mythos glauben machen wollte – an die Macht gebracht und sie waren auch nicht die Vorreiter des sogenannten Dritten Reichs. Dennoch hatte diese Landtagswahl am 15. Januar eine hohe symbolische Bedeutung über Lippe hinaus für das Ende der Weimarer Demokratie.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Reich am 30. Januar 1933 begann die Phase der sogenannten Gleichschaltung. Zwar trat der lippische Landtag weiter zusammen, aber nach der Reichstagswahl vom 5. März wurde er neu zusammengesetzt. Nun verfügte die NSDAP zusammen mit der DNPV über eine 2/3 Mehrheit im Landtag. Die KPD war nach dem Reichstagsbrand in die Illegalität gezwungen worden und auch die letzten fünf SPD-Abgeordneten nahmen aufgrund der massiven Bedrohungen und Inhaftierungen nicht mehr an den Landtagssitzungen teil.

Auf dem Gebäude wehte längst die Hakenkreuzfahne, als die verbliebenen Landtagsmitglieder am 21. Juni 1933 dem Ermächtigungsgesetz zustimmten und damit der Landesregierung ihr Gesetzgebungsrecht übertrugen. Danach wurde der Landtag nicht mehr einberufen.

Anders als etwa in Schaumburg-Lippe trat der Landtag in Detmold gut ein Jahr nach dem Ende der NS-Diktatur am 9. Mai 1946 wieder zusammen. Die 31 Mitglieder waren nicht gewählt, sondern von der britischen Militärregierung ernannt. Dieser Landtag hatte noch einmal Bedeutung, als die britische Militärregierung im Sommer 1946 die Angliederung an Niedersachsen verlautbarte. Der Landtag protestierte und hatte damit Erfolg. Über die anschließend von Landespräsident Heinrich Drake und NRW-Ministerpräsident Rudolf Amelunxen ausgehandelten „Lippischen Punktationen“ stimmte er allerdings nicht ab.

Die letzte feierliche Sitzung hier im Lippischen Landtag fand am 21. Januar 1947 statt. Mit der Verordnung Nr. 77 der britischen Militärregierung verlor das Land Lippe seine Selbständigkeit und wurde dritter Teil des Landes Nordrhein-Westfalen. Damit war auch das einzige demokratische Landesparlament, das vor 1946 auf dem Territorium des heutigen Landes NRW existiert hatte, Geschichte.

Die Interessen der lippischen Bevölkerung werden seither im NRW-Landtag in Düsseldorf vertreten. Warum also noch an den lippischen Landtag als Ort der Demokratiegeschichte erinnern?

Unsere Demokratie hat starke Wurzeln in der Zeit der Weimarer Republik. Dieser Landtag ist also ein Ort, an dem an das Ringen um die besten politischen Lösungen in der ersten deutschen Demokratie erinnert werden kann; an Debattenkultur und erstmals auch die Teilhabe von Frauen daran. Hier kann beobachtet werden, wie die demokratischen Kräfte versuchten, eine Identifikation mit der Republik zu verfestigen. Hier aber ist auch der Ort, an dem das Scheitern der ersten deutschen Demokratie sichtbar wird – der Stabilitätsverlust in einer wirtschaftlich angespannten Zeit und das Einreißen der Brandmauer des bürgerlichen Milieus gegenüber den extremen Rechten; die Wirkung neuer Propaganda-Mittel und die Landtagswahl vor genau 90 Jahren, die der Machtübernahme der Nationalsozialisten einen legalen Anstrich verlieh.

Dieser Ort ist ein authentischer Ort der Demokratiegeschichte. Er zeigt, dass ein demokratischer Verfassungsstaat keine Selbstverständlichkeit ist.

Bildquellen

  • Festakt im ehemaligen Lippischen Landtag, 15.01.2023: Landgericht Detmold, Pressestelle
  • Der original restaurierte Sitzungssaal des Landtags: GEDG: M. Lang

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