Gewandhaus zu Leipzig/Jens Gerber

Gewandhaus

Leipzig

Das Gewandhaus, 1981 als einziger Konzerthaus-Neubau der DDR eröffnet und Spielstätte des ältesten bürgerlichen Orchesters der Welt, wurde im Herbst 1989 auf Initiative Kurt Masurs zum geschützten Ort des freien Meinungsaustauschs und friedlichen Dialogs. Die „Gespräche am Karl-Marx-Platz“ fanden enormen Zustrom.


Am 9. Oktober 1989, unmittelbar nach Beginn der ersten Massendemonstrationen in der DDR, mahnte der „Aufruf der Leipziger Sechs“ unter Beteiligung von Kurt Masur freien Meinungsaustausch, friedlichen Dialog und Besonnenheit an. Kurz darauf öffnete das Gewandhaus am 22. Oktober seine Türen für das erste „Gespräch am Karl-Marx-Platz“ (dem heutigen Augustusplatz). Weitere Diskussionsveranstaltungen folgten am 29. Oktober, 5., 11. und 12. November. Masur moderierte alle fünf Gesprächsrunden selbst und erarbeitete mit den Beteiligten „Leipziger Postulate“. Vor dem Eingang des Gewandhauses ließ Masur am 27. Oktober eine Litfaßsäule aufstellen, die ebenfalls zum kontrollfreien Forum für gesellschaftlichen Diskurs wurde.

Schon zuvor hatte Masur zu „Begegnungen im Gewandhaus“ eingeladen, die beispielsweise im August 1989 polizeilich unterdrückte Straßenmusikanten einbanden und stützten. Am 2. Oktober wurde im westdeutschen Fernsehen ein Interview mit Masur ausgestrahlt, in dem er sich vom rabiaten Vorgehen der Sicherheitskräfte bei montäglichen Friedensgebeten der Nikolaikirche und Demonstrationszügen auf dem Ring distanzierte. Das Orchester bekannte sich zu seinem Kapellmeister und verabschiedete einstimmig eine Erklärung: „Wir, Mitarbeiter des Gewandhauses, die über das hervorragende Medium der Musik verfügen, um humanistische Inhalte, Meinungen, Gefühle und Ziele in unserer kulturvollen Heimstatt, dem Neuen Gewandhaus, zu verkünden, möchten […] zu einem sinnvollen Dialog zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft [aufrufen, bei dem] auch andersdenkende Menschen die Möglichkeit haben, sich öffentlich zu äußern.“

Der über Radio und Stadtfunk verbreitete „Aufruf der Leipziger Sechs“ trug maßgeblich dazu bei, dass die entscheidende Demonstration mit 70.000 Menschen trotz angespannter Stimmung friedlich verlief und das befürchtete polizeilich-militärische Eingreifen ausblieb. Der unblutige Ausgang war keinesfalls abzusehen, als zeitgleich im Gewandhaussaal das Orchester unter Masur ein Sonderkonzert mit Richard Strauss’ Tondichtung Till Eulenspiegel eröffnete. Der Mitschnitt dokumentiert eindrücklich, welche Spannung in der Luft lag.

Das Hauptfoyer des Gewandhauses, dessen Glasfassade sich in den Stadtraum öffnet, beherbergt seit 2022 erneut eine Demokratie-Initiative am historischen Ort. Die Eröffnung jeder Gewandhaus-Saison widmet sich einem aktuellen gesellschaftlichen Thema. Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Lebens kommen miteinander und mit dem Publikum in Dialog und leuchten das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln aus – zentriert um die Musik, die ganz selbstverständlich zum Zuhören einlädt, Resonanzerfahrung beschert, zum richtigen Ton im Umgang inspiriert, Vielstimmigkeit feiert und eine kreativ-offene Grundstimmung schaffen kann.


zum Ort: Gewandhaus Orchester

Adresse

Augustusplatz 8
04109 Leipzig