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Aufarbeitung, Versöhnung und Menschennähe

Jeanette Wolff

* 22.06.1888 in Bocholt † 19.05.1976 in Berlin (West)

Jeanette Wolff überlebte die Shoah – und belebte als Parlamentarierin die Demokratie in Deutschland. Als Jüdin und Sozialdemokratin forderte und förderte sie die materielle und gesellschaftliche Anerkennung von Ausgegrenzten. Die Aufklärung und Entschädigung von NS-Verbrechen waren ihr genauso ein Anliegen wie die Teilhabe und Teilnahme jüdischen Lebens an Gesellschaft und Politik.


Jeanette Wolff wuchs in einer Familie aus zwei Welten auf. 1888 als Tochter religiöser jüdischer Eltern geboren, kam sie früh in Berührung mit den Ideen und Forderungen der Sozialdemokratie, der ihr Vater 1875 beigetreten war. Diese Synthese war selten, lehnten doch viele Angehörige der Arbeiterbewegung religiöse Traditionen und insbesondere die jüdische Kultur ab. Für Wolff lag darin kein Widerspruch, denn soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Gleichheit wollten beide Strömungen im ausgehenden Deutschen Kaiserreich erlangen.

Als 1919 das Frauenwahlrecht in Deutschland eingeführt wurde, war die außergewöhnlich gebildete Wolff die erste jüdische Stadtverordnete in ihrem Geburtsort Bocholt – natürlich für die SPD. Praktisch wollte sie die soziale Demokratie verwirklichen: Im Einsatz für kommunalpolitische Belange, als Gewerkschafterin oder im Jüdischen Frauenbund. Spezifische Frauen- genauso wie allgemeine finanz- oder sozialpolitische Verbesserungen fanden in ihr eine nimmermüde, wortgewandte und prominente Verfechterin. Dem Antisemitismus trat sie aktiv im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens entgegen. Die nationalsozialistische Herrschaft beendete Jeanette Wolffs politische Arbeit. 1933 wurde sie verhaftet, fast ihre gesamte Familie in den Konzentrationslagern zerstört.

Sie selbst überlebte Haft, Vernichtungslager und Todesmärsche. 1946 verfasste sie die Schrift Sadismus oder Wahnsinn, um über die deutschen Verbrechen aufzuklären – und die Deutschen zum Aufbau eines humanen und demokratischen Deutschland aufzufordern. Jeanette Wolff verschrieb ihr gesamtes politisches Leben diesem Ziel. Als Berliner Stadtverordnete und danach im Bundestag stritt sie erfolgreich für die Entschädigung – nicht: „Wiedergutmachung“ – von NS-Opfern. Sie sprach für die Anliegen Ausgegrenzter, half Menschen, die sich mit Petitionen an sie wandten, und schlug bereits 1948 vor, Quoten für weibliche Amtsträger in der SPD einzuführen.

Unnachgiebig blieb sie dabei, NS-Verbrecher hart zu bestrafen und warnte früh vor der Weiterexistenz des Rechtsextremismus. Zugleich – und gegen deutliche Kritik jüdischer Verbände –  verneinte sie eine Kollektivschuld der Deutschen, obwohl viele Menschen Teil des Vernichtungsapparats gewesen waren. Gesellschaftliche Versöhnung, politische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit waren für Wolff die Grundbausteine einer deutschen Demokratie.

Jeanette Wolff starb 1976 unter großer Anteilnahme in Berlin. Ihre Biographie zeigt, aus welchen verschiedenen Quellen sich die Demokratie speist: Aus religiöser Ethik, sozialen Überzeugungen, der Fürsprache für Minderheiten, ökonomischer Freiheit und dem Engagement in Gewerkschaften.